Ein kleiner Ausschnitt aus meinem Buch "Berlin"
Der Weg des Wolfes

1. Kapitel

…Da stand Sascha nun mit Tizian in dem Zimmer, in dem er gelebt hatte, bevor er Jahre zuvor nach Nürnberg ins Jugendheim gegangen war. Der Abend war noch nicht sehr spät, doch beide waren erschöpft und wollten früh schlafen gehen. Als sie auf dem aufgeklappten Sofa lagen, das er aus Nürnberg mitgenommen hatte, unterhielten sie sich noch eine ganze Weile über die Dinge, die sie in ihrer alten Heimat zurückließen. Sofort fing Sascha an von Chrissi zu reden und von seiner Wohnung, die ihn doch sehr einsam gemacht, ihm aber trotzdem das Gefühl von Freiheit gegeben hatte. Tizian sagte nicht viel, jedoch wusste Sascha nicht, ob es an der Müdigkeit lag oder daran, dass er wegen irgendetwas irritiert war. Sascha fragte auch nicht nach, denn seine Schweigsamkeit hatte schon angefangen, als sie noch auf Nürnbergs Straßen gewesen waren. Abgesehen davon war Tizian nie jemand gewesen, der viel geredet hatte. Er gehörte eher zu denen, die dann etwas sagten, wenn sie sich zu einhundert Prozent sicher waren, einen Kommentar dazu abgeben zu wollen. So schliefen sie auch bald ein, und Sascha freute sich auf den nächsten Tag, denn er hatte vor, Tizian alles zu zeigen, was er in Berlin kannte. Nicht nur das Haus, in dem er nach seiner Geburt aufgewachsen war und den dazugehörigen Bezirk, sondern auch alles, was er an Sehenswürdigkeiten in Berlin kannte. Das Brandenburger Tor, die Siegessäule, aber auch persönliche Ziele wie die letzten Orte, an denen er gelebt hatte wollte er Tizian zeigen. Vor allem aber den Bahnhof Zoo und das Schwimmbad Seestraße im Bezirk Wedding. Es war sieben Uhr fünfundvierzig, als Sascha wach wurde und das fahle Licht des kleinen Fensters über ihm ins Zimmer strahlte. Er sagte laut guten Morgen und drehte sich dann auf die Seite, um zu schauen, ob Tizian schon wach war. Was er entdeckte, war eine leere Schlafstelle, in der niemand mehr lag. Sofort war Sascha klar, dass Tizian das Weite gesucht hatte. Was immer der Grund gewesen war, es machte Sascha unendlich traurig. Er stand auf und suchte überall im Zimmer einen Zettel oder einen Brief, doch er fand nichts dergleichen, was Tizian zurückgelassen haben könnte. So legte sich Sascha wieder auf das aufklappbare Sofa. Es flossen bei ihm keine Tränen, als hätte er gewusst, dass dies geschehen könnte. Aber es füllte sich wieder diese Leere in ihm, die er oft in Nürnberg gefühlt hatte, als er noch alleine in der Dallingerstraße 1 gewohnt hatte. Nach einer Weile erhob er sich und versuchte, die Trauer, den Kummer runter zu schlucken. Schließlich hatte er ein Ziel. Er wollte sehr viel Geld verdienen im Geschäft seiner Mutter, um endlich ein besseres Leben führen zu können. Als Sascha angezogen in der Küche stand, schaute er, ob es etwas zum Frühstücken gab, aber außer altem Brot und einem Harzer Roller, fand er nicht viel, was sich zum Frühstücken gelohnt hätte. Harzer Roller war nicht gerade das, was er lecker fand, und so verließ er die Wohnung in der Hoffnung, im Laden seiner Mutter etwas zum Essen zu bekommen. Doch als er dort ankam, sah er zuerst nichts, außer einem Bahnhof, der im Bau stand. Erst schaute sich Sascha jede Ecke der Straßenseiten an und entdeckte nur einen Imbiss. Nur durch einen Zufall sah Sascha ein etwa 1,50 m mal 1, 50 m großes Holzhäuschen, mit einem flachen Dach, das kaum als ein Geschäft zu erkennen war. Ambitioniert sah das nicht aus, was er vorfand. Doch die Tatsache, dass der Laden im Bahnhof entstehen sollte, stimmt ihn zuversichtlich, und so ging er um das Holzhäuschen herum und sah an der Vorderseite ein offenes Fenster, das umrahmt war von vielen Tageszeitungen, die auf einer Ablage lagen und Wochenzeitschriften, die untereinander aufgereiht die Innenwände des Kiosk flankierten. Er ging darauf zu, schaute ins Innere und sah dort seine Mutter etwas versteckt auf einem Hocker sitzen. Er blickte hinein und sagte: 

„Ist das etwa dein Kiosk? Den habe ich mir aber etwas größer vorgestellt!“ 

Saschas Mutter verzog ein wenig das Gesicht und rang sich dann doch ein Lächeln ab. Dann antwortete sie: 

„Naja, das ist ja nur der Anfang. Der hier wirft noch nicht viel ab, aber warte erst mal ab, wenn die zwei Geschäfte im Bahnhof fertig sind.“

„Wieso zwei Geschäfte im Bahnhof?“ 

Nun war Sascha doch sehr erstaunt, und er machte sich sofort Hoffnungen, vielleicht einen der Läden alleine führen zu können und sich selbst Chef nennen zu dürfen. Sascha drehte sich um und schaute sich die Baustelle genau an, lehnte sich an die Ablage, von der gerade eben noch jemand eine Zeitung wegnahm und seine achtzig Pfennig auf den Geldteller warf und sagte dann:

„Der Bahnhof ist aber noch komplett eingebaut mit Gerüsten, wann soll der denn fertig werden?“

Seine Mutter antwortete nicht auf die Frage, sondern bat Sascha nur darum, ihr den kleinen Hocker, der wohl für ältere Menschen gedacht war und vor der Auslage stand, zu geben und stellte diesen anschließend in den Kiosk. Nun schaute er noch intensiver in den Kiosk hinein und fragte noch einmal:

„Mom, wann ist der Bahnhof fertig?“

„Gestern ist ein Brief angekommen und darin haben sie mir mitgeteilt, dass das Gleisbett noch vertieft werden muss, damit auch der ICE dort fahren kann. Es sollte aber nicht länger als sechs Monate dauern, dann sind sie fertig und wir können in den Kiosk und Schreibwarenladen“,

antwortete seine Mutter so beiläufig wie möglich, kramte aus ihrer Tasche den Geldbeutel heraus und rief Sascha zu, auf die Rückseite des Kiosk zu kommen. Als Sascha an der hinteren großen Tür klopfte, öffnete sie diese, gab ihm ein 5 Mark Stück und zeigte in Richtung des Imbisses, den Sascha noch vor dem Kiosk entdeckt hatte. Dann sagte sie in einer Singsang Stimme: 

„Da drüben kannst du dir etwas zu essen holen, aber lass dich von dem Typen nicht ausfragen. Der will irgendwas von mir.“ Darauf wollte Sascha nichts antworten, denn das Geldstück, das vielleicht gereicht hätte, für einmal Pommes mit Bulette, wollte er nicht riskieren. Es reichte in der Tat für eine Portion Pommes mit Bulette und einem großen Klecks Curry-Ketchup. Das war nun auch keine ausgewogene Mahlzeit und erinnerte ihn sehr stark an die Zeit, in der er als Selbstversorger in seiner eigenen Wohnung für sich selbst hatte kochen müssen, aber für den Anfang war es ihm so recht. Abgesehen davon war es eine sehr lange Zeit her, dass er Pommes mit Bulette gegessen hatte. Der Imbissbesitzer fragte ihn tatsächlich, ob er der zweite Sohn der Kioskbesitzerin sei, aber Sascha hielt sich brav daran, nichts zu sagen. Wieder zurück am Kiosk war das Essen schon fasst hinunter geschlungen. Er verabschiedete sich von seiner Mutter, da er keine weiteren Themen mit ihr erörtern wollte, und seine Enttäuschung, dass die Geschäfte noch nicht eröffnet werden konnten, hatte ihn doch tief getroffen. Er setzte sich auf die Treppe eines Einfamilienhauses, das ein paar Meter entfernt vom Kiosk stand und rauchte eine Zigarette. Plötzlich öffnete sich die Tür hinter ihm und ein großer, schlanker Typ mit langen, dunklen Haaren trat heraus. Er quetscht sich seitlich an Sascha vorbei und schaute ihn dabei von oben nach unten hin an.

„Na, sitzt du gut? Kein Problem, bleib ruhig sitzen. Lass aber meine Mutter vorbei, wenn die raus muss.“

Sascha musste sofort schmunzeln über die Art und Weise, wie der junge Mann mit ihm sprach. Genau so war er aufgewachsen, mit lockeren Sprüchen, die so viel Sarkasmus in sich trugen, dass man trotzdem merken musste, dass sich etwas Kritik in den Worten verbarg. Trotz allem war es aber eine freundliche Ansage und beide lächelten sich an. Dann fügte der junge Mann hinzu:

„Ich bin übrigens Dieter, und du bist bestimmt der Sohn von Bärbel aus dem Kiosk, richtig?“

„Ja, das ist richtig. Ist das so offensichtlich?“

„Ja ich habe deinen Bruder ja schon kennen gelernt, und ein wenig schaut ihr euch ähnlich.“

Dann ging Dieter ein paar Schritte weiter, drehte sich noch einmal um und verabschiedete sich von Sascha mit den Worten:

„Ja, bis demnächst.“

Sascha fand ihn sehr nett und das erste, was ihm nach dem kurzen Kennenlernen auffiel, war, dass Dieter immer wieder das Wort ja an den Anfang eines Satzes setzte. Das fand Sascha witzig, denn für ihn war es nicht nur etwas Neues, sondern einfach auffällig, weil er sich nicht vorstellen konnte, jeden Satz mit einem ja zu beginnen. So hat jeder Dialekt seine Feinheiten, dachte er. Schließlich setzte er kein „wa“ an das Ende eines Satzes oder sagte „icke“. In Nürnberg gab es ähnliche Endungen oder Zwischensätze. Zum Beispiel hatte Sascha dort gelernt, dass oft gesagt wurde „wast scho wie i moan!“ oder das Ende eines Satzes immer wieder mit „ne“ beendet wurde. Er sah keinen Anlass, weiter am Kiosk zu verweilen und entschied sich, wieder nach Hause zu fahren. Er hatte nicht mehr lange mit seiner Mutter gesprochen oder ihr Fragen gestellt, denn es war alles klar für ihn und die Enttäuschung gab sein übriges. Für den ersten Moment hatte er nur einen Schreck bekommen, doch dieser Schreck hatte sich schnell in eine totalen Leere in seinem Körper und Geist umgewandelt. Hatte er in Nürnberg immer einen Plan gehabt, so wusste er nun nichts mit sich anzufangen. Sascha war nicht der Typ, der schnell aufgeben wollte, doch dazu musste für ihn ein gewisses Umfeld vorhanden sein. Etwas, das ihn auffangen würde, wenn es nötig war. Freunde wären gut. Sascha war immer jemand gewesen der gut auf Menschen zugehen konnte, und er wollte auch hier in Berlin Freunde finden. Genau dieser Aspekt war ein Kriterium gewesen, sich für den Umzug nach Berlin zu entscheiden. Auf dem Weg nach Hause lief er die Heerstraße vom S-Bahnhof Heerstraße bis zur U-Bahnstation …….. zu Fuß und kam dabei ein paar einhundert Meter entfernt an einer kleinen, unscheinbaren Kneipe vorbei, die damit warb, viele berühmte Schauspieler und Sänger der Stadt Berlin seine Gäste nennen zu dürfen. Obwohl es eine Kneipe war, die angeblich so viele berühmte Menschen zu Gast gehabt haben sollte, fand Sascha, dass dieses Etablissement eher einer ganz gewöhnlichen Kneipe glich und für solch wichtige Menschen des Fernsehens und Showbizz nicht angemessen wirkte. Selbst die beiden Besitzer waren auf einem Foto im Schaukasten neben der Tür, abgebildet, und sie schienen ein schwules Pärchen zu sein. Denn eines der Fotos zeigte beide, wie sie sich küssten. Die vielen anderen Fotos, die sich Sascha anschaute, zeigten jede Menge anderer Persönlichkeiten, die auch ihm bekannt waren. Dabei erkannte er nicht alle auf Anhieb, nur bei den Fotos unter denen eindeutig beschrieben stand wer es war. Karl Dall war für Sascha deutlich zu erkennen gewesen wegen seines einen markanten Auges, das ein wenig mehr nach unten zu hängen schien. Der weitere Weg zur U-Bahn erwies sich für ihn als langweilig. Er sah sich noch einen Aldi um, ansonsten gab es nichts Auffälliges oder Interessantes, was ihn in den Bann gezogen hätte. Die Stadt erschien ihm lauter und dreckiger. Dass er das so kannte, war zwar in seinen Gedanken von Logik erfüllt, aber er hatte in den letzten neun Jahren auch etwas anderes in Nürnberg kennen gelernt. So ging er mit einem gelangweilten und innerlich abgeschotteten Gefühl die Straße entlang und stieg am Ende in die U-Bahn, um nach Hause in die Eosanderstraße 36 zu fahren. 

Dort angekommen, nahm er erst einmal seine Gitarre aus einem der Kartons, die noch immer nicht ausgepackt waren und klimperte ohne Verstärker auf ihr herum. Der Raum füllte sich mit einer seltsamen Stimmung, die er nicht recht greifen konnte. Er fühlte sich nicht wirklich heimisch, und er wusste nicht, woran das wirklich lag. Sofort wanderten seine Gedanken zurück nach Nürnberg, zu Marianne und Sepp, aber auch zu all den Freunden, die er zurückgelassen hatte. Vor allem aber dachte er an Chrissi und seinen Kater Karlchen. Doch bevor Sascha weiter über Nürnberg nachdenken konnte, klingelte das Telefon, und er hob den Hörer ab. Was er hörte, war eine sehr bekannte Stimme. Sie war so einzigartig und eindringlich, wie sie nur die von seiner Schwester sein konnte.

„Ah, du bist schon in Berlin. Das ist gut, dann kannst du mich ja mal in meiner Wohnung im Schwesternwohnheim besuchen kommen wenn du magst? Also jetzt wäre ich hier und wenn du zu mir kommst, dann würdest du auch von mir eine Info bekommen die dich mit Sicherheit auch interessieren könnte. Nein sie wird dich umhauen.“

Sascha war ein sehr neugieriger Mensch, und seine Schwester wusste das genau. Selbst sie konnte die richtigen Hebel bei ihm ansetzen um ihn dazu zu bewegen, der Neugier zu folgen. So war es auch kein Böhmisches Dorf für Anna, zu wissen, dass Sascha nun nicht mehr viel sagen würde und vor allem kein nein.

Was ist denn so interessant? Ich werde gleich losfahren und dich besuchen, das hätte ich sowieso getan.“

„Das ist schön, na dann bis gleich. Adresse steht bei Mama im Flur am Spiegel. Schreib sie dir ab.“

Somit legte Anna auf und ließ Sascha sich in einen stillen Hörer verabschieden.

Als Sascha aufgelegt hatte, bekam er seine schlechte Stimmung wieder etwas gezügelt und lief mit einem Kugelschreiber und einem Zettel aus der Küche zum Spiegel im Flur und schrieb sich die Adresse von Anna ab, die sich seine Mutter wohl selbst als Gedankenstütze so hinterlegt hatte. Sich in Berlin zurechtzufinden und einen Bahnhof, den man nicht kannte, auf einem der vielen Pläne in der U-Bahn zu finden, war schon selbst für einen Berliner ein schwieriges Unterfangen. Für jemanden, der nicht aus der Stadt war und vor allem nicht mehr gewohnt war, so viele Stationen auf einer großen Karte hinter Glas zu verstehen, wie es nun Sascha ging, war es noch viel schwieriger. So dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis Sascha die Station gefunden hatte und bemerkte, dass er zweimal umsteigen musste und Annas Wohnung am anderen Ende der Stadt lag. Dadurch, dass Berlin nun wiedervereinigt war, wurden die Pläne noch größer und unübersichtlicher für Saschas Empfinden. Jemanden zu fragen, der von der BVG war und für diesen Verein arbeitete, war oft nicht die bessere Idee. Denn meist wurde er mit einem dummen Blick, garniert mit einer abfälligen Handbewegung abgefertigt. Nur ganz selten und meist von anderen Fahrgästen, bekam Sascha die nötigen Informationen, um sich zurecht zu finden. Beim Schwesternwohnheim angekommen, stand Sascha vor einem riesigen Hochhaus, und er überlegte eine Weile, ob er wirklich richtig war. Die Hausnummer stimmte und er suchte Annas Namen und fand diesen im sechsten Stockwerk. Alles sah gleich aus in den Fluren des Hauses, so wie Sascha es aus seiner Kindheit kannte, wenn er in Neukölln oder Gropiusstadt Freunde besuchen ging. Es war etwas, das an Eintönigkeit kaum zu überbieten war. Hier ging es nicht um Ästhetik, oder um Schönheit. Hier ging es nur um Effizienz und dass es so lange wie möglich halten sollte, um darin Wohnraum zu erhalten. Hausmeister wollte Sascha in solch einem Haus nicht sein, und er dachte dabei sofort an seinen Freund Günther, dessen Vater Hausmeister in einem Altbau gewesen war, und schon allein dadurch immer zu tun hatte. 

„Wie musste es erst hier sein“, 

dachte sich Sascha. Die Wohnung seiner Schwester war so unspektakulär wie auch einfach gehalten: Ein großer Raum mit einer anliegenden Kochnische und einem kleinem Klo mit Dusche. Anna bat ihn herein und fragte nicht, ob er etwas trinken wollte, sondern zeigte auf eine Thermokanne auf ihrem Tisch und sagte:

„Hier ist Kaffee, bedien dich ruhig.“

Annas herablassender Tonfall war Sascha nicht entgangen. Das konnte er nicht mehr ignorieren und seitdem seine Schwester auf einer Abendschule ihr Abitur nachgemacht hatte, war sie obenauf und musste es mit jeder Faser ihres Daseins zeigen und mit herablassenden Worten untermauern. Nun setzt sich Sascha tiefer auf das rosafarbige Sofa von Anna und goss sich eine Tasse Kaffee ein. Dazu nahm er wie immer viel Milch und drei Löffel Zucker. Anna sitzt sich daneben und sagte dann:

„Ich glaube, du musst einmal rüber gehen zu Steffi. Mir ist zu Ohren gekommen, sie sei schwanger. Ich habe noch keine genaueren Informationen, aber eine Freundin von ihr hat mir das erzählt.“

In Sasha bildete sich sofort ein Kloß, nicht nur im Hals, sondern auch in der Magengegend, als der Schreck ihm durch die ganzen Glieder fuhr. Er erinnerte sich sofort daran, dass er mit Steffi Sex gehabt hatte. Doch er erinnerte sich auch daran, dass sie ihm die Verpackung der Pille gezeigt hatte und darauf verwiesen hatte, dass er sich doch keine Sorgen machen müsse, da sie diese nehmen würde. So stellte er mit zitternden Händen seine Tasse Kaffee wieder auf dem Tisch, von der er gerade noch einen großen Schluck genommen hatte, und antwortete:

„Bist du dir da ganz sicher? Mir hatte sie gesagt, sie nehme die Pille.“

Anna zuckte nur noch mit den Schultern und verwies noch einmal auf ihre Freundin Annabell, die wohl mit Steffi zusammen die Ausbildung zur Krankenschwester machte, und dass sie wohl mit ihr fast befreundet sei. Somit wäre sie zu den Informationen erst gekommen, als sie sich bei einer gemeinsamen Schulung kennen gelernt haben. Die Unterhaltung mit Anna fand nun ein jähes Ende, denn die Unruhe in Sasha erhöhte sich von Sekunde zu Sekunde. Er wollte der Sache sofort auf den Grund gehen. Seine Panik war ihm sichtlich ins Gesicht geschrieben, und Anna bemerkte das sofort. Als beide an ihrer Wohnungstür standen, nahm sie Sascha am Oberarm und sagte:

„Wer weiß, was wirklich daran wahr ist? Jetzt sei nicht schockiert und frag doch erst mal wirklich nach. Aber sie soll schon im siebten Monat sein und das ist schon ziemlich weit.“

Nun wurde Sascha sehr unruhig. In seinem Bauch und ganzen Körper wurde ihm flau, und es wirkte auf ihn, als sei er binnen Sekunden blutleer. Vor seiner Schwester wollte Sascha keine Schwäche zeigen. So versuchte er ruhig zu bleiben und tief einzuatmen. Doch das Ausatmen machte sein Vorhaben zunichte und er sprang auf und rief laut in den Raum:

„Scheisse!“

Anna schaute nur verdutzt und antwortete nicht auf Saschas Reaktion. Doch Sascha führ fort:

„Stell dir vor, sie bekommt von mir ein Kind. Es war nur einmal. Ein einziges Mal. Abgesehen davon hatte sie gesagt, sie nehme die Pille.“

Nun hatte Anna ein ernstes Gesicht aufgesetzt und blickte ihren Bruder streng an. Sie nahm noch einen langen Schluck Kaffee aus ihrer Tasse und antwortete ihm:

„Na das war ein teurer Spaß für eine Nacht. Hast du kein Kondom benutzt? Mal abgesehen davon, dass du dir sonst was für Krankheiten holen kannst, wä….“

Sascha unterbrach Anna abrupt und rief dazwischen:

„Das hilft mir jetzt ungemein, noch mehr Vorwürfe zu bekommen. Sag mir lieber, wo sie wohnt, damit ich dort hin kann. Ich werde sie zur Rede stellen.“

„Findest du das nicht etwas zu spät? Aber gut, mach mal. Ich war noch nie bei ihr in der Wohnung. Immer, wenn wir etwas ausgemacht hatten, kam Steffi mit irgendeiner Ausrede, die das Treffen bei ihr gar nicht erst zustande kommen ließ. Da ist sicher was faul bei ihr.“

„Aber ist es nicht deine Freundin? Du hast sie doch zu mir mitgeschleppt.“

„Hey, jetzt mach mich nicht dafür verantwortlich, klar? Sie hatte mich gefragt, da sie solo war, als ich sie kennen gelernt hatte. Als ich dann erzählte, dass ich dich besuchen fahre, wollte sie unbedingt mit. Warum sollte ich das nicht machen? Es ist doch viel schöner zu zweit nach Nürnberg zu fahren, als alleine. Das Vergnügen lag ganz bei dir.“

Der letzte Satz Annas kam mit solch einer Vehemenz und Aggression in ihrer Stimme, dass Sascha genau wusste, jetzt wäre es ratsam, nichts mehr zu sagen, um nicht in einen immensen Streit mit seiner Schwester zu geraten. Er holte seine Jacke und lief zur Tür, aber nicht, ohne sich noch einmal mit ein paar Worten zu seiner Schwester umzudrehen:

„Sei es wie es ist. Ich habe keine Schuld, dass Steffi mich so verarscht hat. Denn sie hat mir die Pillenpackung gezeigt, und es waren sogar ein paar Pillen wag. Mal sehen ob sie da ist. Wir sehen uns bei Mom.“

So öffnete er die Wohnungstür und stand wieder draußen auf dem Flur des Wohnheimes, in dem jedes Stockwerk  gleich aussah. Doch wie vom Blitz getroffen fiel ihm ein, dass er von Anna nicht gesagt bekommen hatte, wo Steffi wohnte. Er dreht sich noch einmal um, wollte gerade die Klingel betätigen, als sich gleichzeitig die Wohnungstür seiner Schwester öffnete und sie vor ihm stand.

„Schon klar Sascha, du willst noch wissen wo sie wohnt. Dazu musst du nicht weit laufen. Zwei Stockwerke nach oben und dann halb rechts halten und dann findest du schon ihren Nachnamen“,

sagte sie, bevor Sascha zu Wort kommen konnte und ließ ihn dann im Hausflur stehen, um ihrerseits wegzugehen.

Es dauerte tatsächlich nicht sehr lange, bis Sascha die Wohnung von Steffi fand. Er stand vor der leicht verdreckten Tür und lauschte mit den Ohren, angelehnt am Holz der Tür, ob er etwas wahrnehmen würde. Als kleines Kind lernte Sascha sehr früh, mit der Stille des Raumes und einem gewissen Maß an Konzentration, zu lauschen, was hinter bestimmten Wänden vor sich ging. Anfangs war es für Ihn und seine Geschwister ein wichtiges Instrument zu erfahren, was sich im Wohn- oder Schlafzimmer seiner Eltern zutrug, wenn sie sich wieder einmal stritten. Später versuchten er und seiner Geschwister so heraus zu bekommen, ob ihr Vater so unter Einfluss von Alkohol stand, dass es besser war, sich so leise zu verhalten, dass er nicht auf die Idee kam nach ihnen zu sehen und womöglich einen der Jungs zu verdreschen.

Später, so wie nun an der Tür von Steffis Wohnung, wurde es reines Interesse am Lauschen und erfahren von Dingen, die ihn nichts angingen. Sein Ohr war ganz nah und fest an die Tür gepresst und anfangs störten ihn die Geräusche, die überall um ihn herum zu hören waren. So versuchte Sascha sich immer mehr auf das Ohr zu konzentrieren, dass in die Wohnung lauschte. Es bedurfte keiner langen Geduld, bis er ein lautes Geräusch innerhalb der Wohnung vernahm und er sofort klingelte. Er wartete und klingelte gleich nochmal. Es passierte nichts. Sein Ohr drückte Sascha nun wieder an die Tür und klingelte ein drittes Mal. Jetzt schon etwas länger. Es geschah aber wieder nichts und so langsam verlor er die Geduld und auch die Nerven. Für Sascha ging es hier und heute darum, wie seine Zukunft aussah und ob er Vater werden würde oder nicht. Da sich wiederum nichts tat und er überzeugt davon war, dass sich jemand in der Wohnung befand, klingelte er nun Sturm und rief gleichzeitig durch die geschlossene Tür:

„Hallo Steffi, ich bin es, Sascha. Ich weiß dass du da bist, also mach die Tür auf.“

Seine Worte hallten im Flur des Hauses, aber Sascha war so aufgebracht, dass es ihn schier nicht interessierte, ob sich jemand davon gestört fühlte oder nicht. Dass es auch nicht die feine Art war, sich so zu verhalten, interessierte ihn jetzt auch nicht mehr. Seine Emotionen waren so erfüllt von Sorge und Angst, Vater zu werden, dass er alles erdenklich Positive, was er sich an gutem Verhalten angeeignet hatte, nach hinten schob und nicht mehr darauf achtete. Nun trat er heftig gegen die Tür und klingelte noch einmal Sturm. Zusätzlich rief Sascha erneut:

„Mach endlich die Tür auf, ich weiß dass du zu Hause bist. Ich habe dich doch schon gehört, bevor ich geklingelt habe. Mach endlich auf, oder ich trete dir die Tür ein. Glaube mir, ich scherze nicht.“

Was immer das Zünglein an der Waage war, nun öffnete sich die Tür und Sascha sah, wie sich Steffi gleich wieder wegbewegte und in Ihr Wohnzimmer lief. Er trat ein und bemerkte sofort, dass das kleine Apartment sehr dunkel war. Ob Steffi das Licht ausgeschaltet hatte, testete er gleich, indem er das Licht versuchte einzuschalten. Als er das tat, sagte Steffi gleichzeitig:

„Vorne sind die Birnen kaputt im Flur. Daher geht das Licht nicht.“

Sascha ließ ab und ging langsam ins Wohnzimmer. Der Flur war jedoch nicht so dunkel, dass er nicht erkannte, dass in diesem kleinen Flur etliche Mülltüten und blaue Säcke gestapelt lagen. Das Wohnzimmer war ebenfalls nicht sehr farbenfroh und auch hier ging das Licht nicht. Nur eine kleine Lampe, die sich Steffi hinter das Sofa geklemmt hatte, spendete einen kleinen Kegel Licht auf das Sofa, auf das sie sich nun wieder gesetzt hatte.

„Was willst du?“,

fragte sie mit leiser, fast stoisch ruhig klingender Stimme und sah Sascha dabei nicht an. Ganz im Gegenteil, sie schien den Blickkontakt mit Sascha zu meiden. Er stand nur vor ihrem Sofa und war selbst völlig von der Rolle. War er doch sonst nicht auf den Mund gefallen, so kam nun nichts mehr aus ihm heraus. Es dauerte eine ganze Weile und vieler Blicke durch die unglaublich verwahrloste und dreckige Wohnung, bis Sascha wieder etwas sagen konnte:

„Und du bist dir sicher, dass das Kind von mir ist?“

Jetzt war urplötzlich wieder Leben in Steffi zu erkennen und wahrzunehmen. Sie drehte sich auf ihrem Sofa weiter rüber, um Sascha mit ihrem entsetzen Blick anzuschauen und zu antworten:

„Was denkst du von mir? Natürlich ist es von dir. Ich hatte keinen anderen Mann.“


Es kamen nun auch Tränen, die sie nicht mehr zurückhalten konnte. Sascha war nie ein Unmensch und selbst sehr sensibel. An diesem Punkt angekommen, war bei ihm aber Schluss und er schrie ihr direkt ins Gesicht:

„Du hast mich belogen, du hattest mir gesagt, dass du die Pille nimmst und jetzt bist du plötzlich schwanger?! Hälst du mich für so bescheuert, dass ich das nicht durchschaue? Mein Bruder war einer der besten Lügner dieser Welt und wenn ich dir ins Gesicht und in deine Augen schaue, sehe ich denselben Lügenblick wie bei ihm.“

Nun war wieder Ruhe im Zimmer und die Tränen flossen wie aus Gießkannen. Als Sascha dies eine Weile mit angesehen hatte, fügte er noch hinzu:

„Dass du jetzt so heulst, zieht bei mir nicht. Ich habe zu viel erlebt in meinem Leben, als dass ich jetzt auf solche Tränen reinfalle. Was hast du jetzt vor? Wie soll das alles laufen? Ich habe keinen Bock, jetzt für ein Kind zahlen zu müssen, was ich nie wollte.“

„Ich werde dich nicht als Vater angeben beim Jugendamt und dann bist du raus aus der Sache.“

Einerseits war Sascha nach diesem Satz entsetzt, andererseits war er sehr verwundert, dass Steffi sofort auf die Idee kam, sich so etwas einfallen zu lassen. Er sah sie eindringlich an und antwortete nicht auf ihren Satz, sondern sagte:

„Und in dieser dreckigen Wohnung willst du dein Kind großziehen? Das kann nicht dein Ernst sein? Aus der Sache raus! So ein Schwachsinn. Dir glaube ich kein Wort mehr und wenn du nicht auf der Stelle anfängst, diese Wohnung zu renovieren oder auszuziehen, dann zeige ich dich an. Das ist hier eine Messi-Wohnung und du brauchst dringend Hilfe. Such dir diese bitte.“

Nicht eine weitere Silbe verlor Sascha und lief mit hoch rotem Kopf aus der Wohnung. Er konnte nichts mehr sagen und obwohl er noch eine Frage von Steffi hörte, wollte er auch nicht mehr auf sie eingehen.

Er konnte es nicht. Alles in ihm hatte sich zusammengezogen und verkrampft, und kaum hatte er einen Fuß auf den Gehweg gesetzt, liefen auch bei ihm die Tränen. Es war für ihn so heftig gewesen, dass er trotz Passanten seinen Gedanken freien Lauf ließ und sie unter Tränen laut ausplauderte. Sascha haderte nicht nur damit, dass er nun Vater werden würde, da er ein Kind gezeugt hatte. Es war auch die Komponente des Geldes, die in seinem Kopf umher spukte. Er wollte doch reich werden mit seiner Mutter und viel Geld verdienen. Nun sollte er nicht nur für sich arbeiten, um Geld zu verdienen, sondern es einem Kind geben müssen, dass er nicht einmal wollte. Wohin mit seinen Emotionen in so einem Fall, wusste er nicht. Sich zu beruhigen war ihm kaum möglich, und da er nun das Gefühl hatte, dass nichts in Berlin klappte und auch das Versprechen seiner Mutter eine hohle Blase zu werden schien, wurde Sascha so nachdenklich, dass er sich nicht nur einen Abend lang einigelte, sondern ganze drei Tage nicht mehr vor die Tür ging. Sascha sprach auch nicht mit seiner Mutter über das Geschehene, da er nicht den Mut aufbringen konnte, ihr die Wahrheit zu erzählen.


2. Kapitel

Sascha starrte aus dem Wohnzimmerfenster der Wohnung seiner Mutter in Berlin und beobachtete die grauen Wolken, die über der Stadt hingen. Es war nicht nur der Himmel, der düster wirkte, sondern auch sein Herz, das von Einsamkeit erfüllt war. Vor einigen Tagen war er von Nürnberg nach Berlin gezogen, auf der Suche nach neuen Möglichkeiten und einem besseren Leben mit seiner Familie, die er seit dem Jugendheim so vermisst hatte. Doch die Stadt, die so pulsierend schien, fühlte sich für Sascha kalt und distanziert an.

Die Tage verstrichen seither träge. Sascha verbrachte seine Abende oft damit, durch Fotoalben seiner Mutter zu blättern und sich an die glücklichen Momente in seiner Kindheit zu erinnern. Doch die Vergangenheit war nur noch ein schmerzhafter Kontrast zu seinem vergangenen Leben in Nürnberg.

Als der Regen anfing gegen die Fensterscheiben zu prasseln, konnte Sascha die Einsamkeit nicht länger ertragen. Er griff zum Telefon und rief bei Marianne und Sepp an. Die Worte, die sie teilten, brachten für einen Moment Trost, aber die Distanz zwischen ihnen war umso spürbarer für ihn, da die Entfernung immer wieder in seinen Gedanken mitspielte. Marianne tat auch nichts weiter, als Sascha noch einmal das Angebot zu unterbreiteten, jederzeit wieder nach Nürnberg zu kommen und eine Weile bei ihnen zu wohnen. Saschas Herz erfreute sich kurz, und obwohl sich seine Tränen ankündigten, blieb er gefasst und sagte:

„Das ist sehr lieb von dir und Sepp, aber ich versuche erst einmal zu schauen, ob es hier besser wird. Doch es ist wirklich gut zu wissen, dass ich es machen könnte, und ich werde es auch tun, wenn es nicht mehr geht.“

Mit diesen Worten legte Sascha auf und raffte sich auf, wieder zum Kiosk seiner Mutter zu fahren. Sascha lief los, die Eosanderstraße entlang, wo die Blätter des Herbstes auf dem Bürgersteig raschelten. Der Himmel über Berlin-Charlottenburg war in warme Farben getaucht, als die Sonne immer wieder hinter den historischen Gebäuden des Bezirkes verschwand. Er bog in die Otto-Suhr-Allee ein und lief bis zum U-Bahnhof Richard-Wagner-Platz, um von dort aus bis zum Bahnhof Heerstraße zu kommen. Um sich das Geld für den Bus zu sparen, lief Sascha immer wieder den langen Weg bis zum Kiosk zu Fuß, da in Berlin selten jemand ohne Fahrkarte im Bus einsteigen konnte. Dass der Westteil der Stadt keine Straßenbahnen hatte, wurmte ihn sehr. Doch er war nicht abgeneigt, seine Füße zu bewegen, um die Strecke schnell zu überwinden. Schließlich war er es gewöhnt, lange Strecken zu Fuß zu gehen, da er keinen Führerschein oder ein Auto besaß. Auf dem Weg zum Arbeitsplatz seiner Mutter beobachtete er immer wieder die Autos auf der Straße. Und da der Mauerfall noch nicht sehr lange her war, fuhren immer wieder die kleinen, knatternden Trabbis die Straßen entlang und verpesteten die Luft. Sascha war nicht sehr erfreut darüber, dass die Mauer gefallen war. War es damals noch ein historischer Moment, den er selbst gerne gefeiert hatte, war er nun der Ernüchterung gewichen. Jeder Bürger der ehemaligen DDR wollte nun seinen Trabant oder Wartburg loswerden und die Autoverkäufer verdienten sich an alten, fast kaum noch zu gebrauchenden VW Golfs eine goldene Nase. Hinzu kam, dass durch die Öffnung der Grenzen Richtung Polen nun auch sehr viele Russen und Polen in Berlin anzutreffen waren, die jedes Schrottauto kauften oder stahlen, um es in ihrer Heimat profitabel weiter zu verkaufen. Selbst die Bekannten aus Dalewitz, die er aus seiner frühen Kindheit kannte, hatten laut seiner Mutter ihr Haus und Grundstück verkauft und sich eine Wohnung in Berlin gesucht, um mit dem Geld gut zu leben. Sascha hatte gewusst, dass der Vater seines Kindheitsfreundes das Haus in Dahlewitz im Kreis Zossen für zehntausend Ostmark gekauft hatte. Jetzt hatte er alles in allem für zweihundertachtzigtausen D-Markt wieder verkauft. Für Sascha war dies eine riesig große Ungerechtigkeit. Aber das Haus überhaupt zu verkaufen war für ihn noch ein viel größerer Frevel, als diese Ungerechtigkeit. Schließlich war es das „Ferienhaus“ seiner Kindheit gewesen, in dem er etliche Sommerferien mit dem Sohn der Familie verbracht hatte. Seine Mutter dagegen, war nur über die Tatsache verärgert, dass die Menschen aus der DDR nun mehr Geld besaßen, als die im Westen Deutschlands.

Als Sascha vor dem Bahnhof stand, sah alles so aus wie zuvor, als er zuletzt beim Kiosk seiner Mutter gewesen war. Hatte er gehofft, ein wenig Fortschritt sehen zu können, war er nun wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgestoßen worden. Sascha stand einsam in dieser riesigen Straße, als er von weitem den jungen Mann sah, den er vor ein paar Tagen zuvor beim Kiosk seiner Mutter getroffen hatte. Als Sascha zu ihm lief, winkte dieser ihn zu sich und lud ihn plötzlich zu sich nach Hause ein. Da Sascha ein offenherziger Mensch für Fremde war, sagte er zu und trat ein in das Haus, in dem Dieter zu wohnen schien. Die Mutter seines neuen Freundes schien auch ziemlich angetan von Sascha zu sein, als sie Sascha sah. Diese plötzliche Verbundenheit machte Sascha für den Moment fröhlich. Sie stellte sich kurz vor, ließ auch verlauten, dass sie die Mutter von ihm kennen würde, und verließ dann ihrerseits das Haus. Dieter fragte Sascha, ob er ein Bier trinken wolle, und Sascha sagte zu, obwohl der Tag noch nicht sehr weit fortgeschritten war. Die Freundschaft mit Dieter begann Sascha aufzumuntern. Und als Sascha ihm seine Geschichte kurz umrissen erzählt hatte, fragte Dieter mit einem leichten Grinsen:

„Soll ich dich nach Nürnberg zurückfahren?“

Sascha grinste zurück, legte seinen Kopf schief und antwortete nicht darauf. Er setzte sich auf das Sofa, das ihm Dieter angeboten hatte, und trank den ersten Schluck aus der Bierflasche, die dieser ihm hingestellt hatte. Jetzt fühlte sich Sascha plötzlich nicht mehr so allein in dieser fremden Stadt. Es breitete sich wieder Hoffnung in ihm aus. Sascha blickte sich in dem Wohnzimmer um, in dem er nun saß. Es unterschied sich nicht von anderen Wohnzimmern, die erkannte. Es war zwar etwas größer als das, was er Nürnberg bewohnt hatte, aber es war mindestens genauso unaufgeräumt. Obwohl Dieter zum Besuch eingeladen hatte, hatte er sich nicht die Mühe gegeben, vorher aufzuräumen.

Sascha schaute sich genau um. Was er als Erstes auffällig fand, war die Unordnung, die das ganze Wohnzimmer überzog. Es war nicht nur eine Unordnung, die sich auf einzelne Bereiche bezog, sondern eine, die sich großflächig über den ganzen Boden, sowie Tische und Sitzgelegenheiten erstreckte. Seiner positiven Stimmung tat es keinen Abbruch, und er unterhielt sich mit Dieter sehr angeregt über alles, was gerade in der Welt passierte. Dieter war weitblickend in der Politik und hatte sehr gute Kenntnisse über die Geschichte Deutschlands und der Welt. Das gefiel Sascha sehr, da er selbst ein Mensch war, der dem Weltgeschehen zugewandt war. Das Persönliche über Sascha selbst sprach er nicht an, doch das eine oder andere Mal konnte Sascha in den Gesprächen heraushören, dass Dieter mit seiner Mutter guten Kontakt, sogar eine Freundschaft zu pflegen schien. Da es nichts Außergewöhnliches war, dass Saschas Mutter viele Kontakte pflegte, hatte er nicht den Drang, weiter zu bohren, um mehr zu erfahren. Es floss aus Dieter selbst heraus und ab und zu fügte sich dann alles so gut für Sascha zusammen, dass er nicht nachfragen musste. Seit einer sehr langen Zeit hatte Sascha nicht mehr so viel zuhören können, ohne Anstrengung zu empfinden, mitreden zu müssen.

Plötzlich ging die Haustür und Dieter sagte sofort:

„Das müsste jetzt meine Mutter sein. Sie wird dir gefallen. Ist genauso frech und überzeugt von sich wie deine Mutter.“

Sascha konnte es kaum glauben, als die Tür aufging zum Wohnzimmer und Dieters Mutter hinein trat. Sie war keineswegs die erwartete ältere Frau, die er sich vorgestellt hatte. Stattdessen betrat aus seiner Sicht eine recht junge Frau das Haus, die mit ihrer lebendigen Ausstrahlung und ihrem jugendlichen Charme alle Erwartungen übertraf.

Dieters Mutter, deren Namen Sascha noch nicht kannte, schien sich bewusst zu sein, wie überrascht er war. Mit einem schelmischen Lächeln begrüßte sie ihn herzlich.

„Du musst der Sohn von Bärbel sein, nicht wahr? Dieter hat mir schon von dir erzählt."

Sascha konnte nur stammelnd nicken, während er versuchte, seine Verblüffung zu verbergen. Dieter hatte nie erwähnt, dass seine Mutter so jung und attraktiv war. Als sie ihn genauer ansah, schien sie seine Reaktion zu bemerken und begann, sich auf eine Weise zu bewegen, die Sascha unbehaglich werden ließ.

Im Laufe des Gesprächs wurde die Mutter von Dieter zunehmend flirtatious. Sie setzte sich neben Sascha, spielte mit ihrem Haar und machte anzügliche Bemerkungen. Sascha, der sich in einer äußerst unangenehmen Situation befand, versuchte höflich zu bleiben und sich aus der Reichweite ihrer Avancen zu bewegen.

Dieters Mutter schien jedoch nicht bereit zu sein, aufzugeben. Sie setzte ihre Flirtversuche fort, und Sascha fand es immer schwieriger, höflich zu bleiben. Innerlich war er hin- und hergerissen zwischen der Unannehmlichkeit der Situation und dem Respekt, den er Dieter und seiner Mutter entgegenbringen wollte.

Schließlich fasste Sascha all seinen Mut zusammen und sagte höflich, aber bestimmt:

„Entschuldige bitte, aber ich fühle mich nicht so gut, und ich muss jetzt nochmal zum Kiosk und schauen, ob ich was machen muss."

Die Mutter von Dieter schaute überrascht, aber Sascha stand auf und wollte gerade das Haus verlassen, als sie ihm hinterher rief:

„Ach verflixt, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Das tut mir leid. Ich heiße Uschi und bin die Mutter von Dieter.“

Sascha winkte ihr nur zu und sagte dann zu Dieter zugewandt:

„Hoffe, wir sehen uns? Bis dann.“

Es schien, als hätte Sascha eine unerwartete und möglicherweise peinliche Situation vermieden, als er sich der unangemessenen Annäherung entzog. Seine Gefühlslage nach dem Vorfall war durch eine Mischung aus Erleichterung, Verunsicherung und nachdenklicher Bewunderung für Dieters Mutter geprägt, als er vor dem Haus stand und zum Kiosk seiner Mutter lief.

Seine Erleichterung hingegen führte Sascha darauf zurück, dass er erfolgreich eine unangenehme Situation vermieden hatte. Gleichzeitig jedoch verspürte er auch Verunsicherung aufgrund der Unsicherheit darüber, wie Dieter auf die Situation reagieren würde.

Als Sascha vor dem Kiosk seiner Mutter stand und sie im Inneren vorfand, erschrak sie zwar, lächelte Sascha aber an, und sofort konnte er erkennen, dass dieses Lächeln nicht wirklich glücklich wirkte, sondern aufgesetzt war. Auch seine Mutter war für Sascha ein offenes Buch, wenn es darum ging, ihre Gesten und Gesichtsausdrücke zu definieren. Im Vorfeld schon erkennen zu können, wie sie drauf war, um von ihrer Gefühlslage nicht überrascht zu werden, hatte schon in seiner frühen Kindheit einen sehr großen Vorteil gehabt. Sofort änderte sich der Gesichtsausdruck von Sascha und er fragte sie:

„Was ist los? Diesen Gesichtsausdruck kenne ich, bei dem du ein gequältes Lächeln vorschiebst.“

„Ach nichts!“,

antwortete seine Mutter etwas barsch und legte die Zeitschrift zur Seite, die sie sich gerade angeschaut hatte. Sascha ließ keineswegs locker, aber er lief erst einmal zum Eingang auf der Rückseite und wartete dort, dass seine Mutter die Tür öffnen würde. Eingetreten in den viel zu kleinen Raum aus Brettern, fragte Sascha erneut, was los sei, und lehnte sich aufreizend wartend an die Wand, an dem die Regalbretter etliche Berge von Zeitschriften und Heften hielten. Saschas Mutter drehte sich zu ihm um und sagte dann mit einem leicht genervten Unterton:

„Den Architekten, der zuständig für den Bahnhof ist, könnte ich erschlagen. Im Gegensatz zu dem, was ich schriftlich bekommen hatte, hat er mir heute Morgen erzählt, dass die beiden Geschäfte erst nächstes Jahr fertig werden, und das kann sich bis in den Frühling ziehen. Es geht also nicht nur um das Gleisbett, sondern selbst das Lokal, das neben unseren Läden entstehen soll, hätte laut des Architekten Vorrang.“

Das Blut stoppte abrupt in den Adern Saschas. Jetzt fühlte er sich schlagartig wieder leer. Hatte er gerade noch eine gute Stimmung durch das Kennenlernen Dieters gehabt, war es seine Mutter, die abermals alles auf Null in ihm setzte.

„Das kann doch nicht dein Ernst sein? Warum bin ich hierher gezogen, wenn ich jetzt so lange arbeitslos bin und nicht mein eigenes Geld verdiene?“

Das Unglück war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben und es blieb auch nicht seiner Mutter verborgen. Doch trotz allem zuckte sie nur mit den Schultern und sagte nur:

„Wenn du magst, kannst du gerne hier ab und zu arbeiten und dir etwas verdienen?“

Selbst wenn dies ein nett gemeintes Angebot gewesen war, konnte Sascha sich nicht darüber freuen und es schon gar nicht annehmen.

Sascha verließ den Kiosk seiner Mutter mit einem schweren Herzen. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und der Klang schien seine Enttäuschung zu verstärken. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu und ihre warmen Strahlen tauchten die lange Heerstraße in ein goldenes Herbstlicht. Sascha lief die Straße entlang, die Hände tief in den Taschen seiner alten, grünen Bomberjacke vergraben.

Sein Blick war auf den Bürgersteig gerichtet, während seine Gedanken wild durcheinander wirbelten.

Ein innerer Konflikt tobte in Sascha. Dieter, der neue Freund, hatte ihm kürzlich angeboten ihn zurück nach Nürnberg zu bringen. Eine Stadt, die er verlassen hatte, um in Berlin sein Glück zu finden. Der Gedanke an Dieters Angebot drängte sich nun stärker in den Vordergrund. Sollte er diesen letzten Strohhalm ergreifen? Die Hoffnung darauf, dass in Nürnberg vielleicht ein neuer Anfang auf alten Sockeln möglich wäre, zog ihn in diese Richtung.

Die Straße erstreckte sich endlos vor ihm. Die Lichter der Laternen blinkten wie Sterne in der aufkommenden Dunkelheit. Sascha blieb stehen, lehnte sich gegen einen Laternenpfahl und starrte auf den Boden. Seine Finger spielten nervös mit einem zerknitterten Fahrplan der U-Bahn.

Die Entscheidung lag vor ihm wie eine ungeschriebene Geschichte.

 

 

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