Es war ein verregneter November- morgen
Ein kleiner Ausschnitt aus meinem Buch "N.I.S.T. ..."

Es war ein windiger und regnerischer Tag. Sascha saß in einem VW-Passat, unterwegs auf der Autobahn in Richtung Nürnberg. Ein älterer Mann mit Halbglatze und einem leicht grau meliertem, braunem Haarkranz saß am Steuer.

Wie weit ist es noch nach Nürnberg?,

fragte Sascha mit einer ruhigen und etwas traurigen Stimme.

Langsam und mit ernstem Gesicht drehte sich der Mann zu ihm herüber.

„Nicht mehr weit, bloß noch einhundertachtzig Kilometer!“

„Ich habe etwas Angst, Herr Beier!“

„Vor was denn?“

„Weiß ich nicht, aber mein Bauch sagt mir, dass es mir da nicht gut gehen wird!“

„Das ist Quatsch, ich habe mit den Leuten schon geredet! Sie sind alle sehr nett, und dein Bruder war doch auch dort!“

„Na ja, ich werd’s ja sehen!“

Saschas Gesicht sprach Bände, obwohl es ihm jetzt etwas besser ging. Er kannte das N.I.S.T. schon, da sein älterer Bruder Daniel in diesem Heim gewesen war. Sein Bruder war damals freiwillig zur Jugend- Notstelle in Berlin Neukölln gegangen, da er es zu Hause nicht mehr ausgehalten hatte. Im Großen und Ganzen konnte auch Sascha nicht in seiner Familie bleiben, da diese Familie für ihn nur noch nach Prügel, Terror, Einsamkeit und Hausarrest aussah. Als Herr Beier und Sascha in Nürnberg ankamen, hatte sich das Wetter etwas gebessert. Auf einem großen Stadtplan, der an einer Straßenbahnhaltestelle angebracht war, suchten sie die Straße, in der sich das Heim befinden sollte. Es war schon ganz in ihrer Nähe, und sie fanden es schnell. Kaum am Haus angekommen sah sich Sascha um, bis sein Blick an einem silbernen Schild mit schwarzer Inschrift stehen blieb.

„N.I.S.T., Nürnberger Initiative für Sozialtherapie, was ist das denn für ein Name?“

Herr Beier schaute Sascha an und lächelte fast bis zu den Ohrläppchen.

„Du kannst ja bei der Abkürzung bleiben, oder du denkst dir etwas anderes aus!“

Sascha nickte nur mit dem Kopf und fragte sich, was daran jetzt so witzig sei. Ihm war überhaupt nicht nach Lachen zumute, war er doch gerade aus seiner Heimat Berlin heraus gerissen worden. Andererseits hatte er sich aber auch aus freien Stücken für das N.I.S.T. entschieden, als man ihn vor die Wahl zwischen Nürnberg und der Ostsee gestellt hatte. In Berlin hätte er sicherlich keine Zukunft gehabt. Nicht nach seiner verkorksten Vergangenheit dort mit Drogen, Anzeigen und Schulabbruch!

Das Haus sah von außen sehr verwahrlost aus, und der Weg zur Haustreppe bestand nur aus Sand. Sascha zählte acht Stufen bis nach oben zur Haustür. An der rechten Seite hatte die Treppe ein altes, ziemlich verrostetes Geländer, woran er sich auf keinen Fall festhalten wollte. Herr Beier klingelte, und als sich die Tür öffnete dachte Sascha, dass dies jetzt ein Neubeginn war. Und als ihm die letzten Bilder aus Berlin noch einmal durch den Kopf gingen, da hätte er fast geweint. Er verkniff es sich aber, da er nicht als Demel dastehen wollte.

„Hey, Sascha, schläfst du?“,

fragte Herr Beier.

„Nein, nein. Ich habe nur geträumt!“

Herr Beider verzog sein Gesicht und schüttelte erstaunt den Kopf, als könnte er nicht verstehen, dass man in solch einer Situation


träumen könnte. Der kleine, vollbärtige, muskulöse Mann, der die Tür öffnete, hieß sie beide willkommen:

„Hallo, ich bin Thomas, wir haben dich schon erwartet!“

Sascha schaute ihn prüfend von oben bis unten an und antwortete mit einem lauten und grellen:

„Tach!“

Als Sascha in den Flur trat, sah er einen großen, blonden Jungen vor einem Spiegel stehen, der sich sofort in den daneben liegenden Raum verzog, als er Sascha entdeckte. Thomas führte Sascha und Herrn Beier weiter in das Büro, wo er ihnen noch eine Frau Namens Irmgard und einen Mann mit Halbglatze Namens Jens vorstellte. Sie setzten sich allesamt an einen Tisch. Von dem Gespräch, welches nun folgte, bekam Sascha gar nicht alles richtig mit. Er war mit seinen Gedanken wieder bei seinem besten Freund Günther, der jetzt bestimmt irgendwo in Berlin unterwegs war. Kurz bevor Sascha nach Nürnberg sollte, hatte er sich mit Günther noch in den Haaren gehabt, und das Ganze nur wegen der Freundin seines Freundes. Sascha hatte Angst, dass sein bester Freund nun die Freundschaft mit ihm beenden würde, und dieser kleine, aber doch traurige Gedanke war es, der ihn in diese Stimmung versetzte.

Plötzlich ging die Tür zum Büro auf. Ein Junge streckte seinen Kopf zu ihnen herein und fragte Thomas, wann es die Getränke gäbe, die doch diese Woche anstünden. Während Thomas ihm antwortete, betrachtete er Sascha vom Scheitel bis zur Sohle, knallte dann die Tür hinter sich zu, ohne auf das Ende der Antwort zu warten und rannte in den Raum nebenan. Lautes Getuschel und Lachen klang von dort zu ihnen herüber, und Sascha musste grinsen über diese Situation. Er drehte sich zu Thomas um und fragte:

„Wie alt sind die denn alle hier so?“

Erstaunt und ein wenig verwundert schauten ihn alle an und Herr Beier erwiderte:

„Alle so in deinem Alter, vielleicht ein bis zwei Jahre mehr oder weniger!“

Da verging Sascha das Lachen, und er wurde etwas nachdenklich. Er konnte nicht verstehen, dass man sich mit vierzehn oder zwei Jahren mehr oder weniger so kindisch benehmen konnte. Oder hatte er es nur verlernt? Hatte er vergessen, bei all dem Ernst in seiner Kindheit auch unbeschwert Faxen machen zu dürfen?

„So´n Quatsch!“,

sagte Sascha.

„Was?“,

fragte der aufmerksam dreinblickender Mann namens Jens.

„Ach nichts! Ich habe nur laut gedacht!“,

entgegnete Sascha, und wie es der Zufall wollte rettete ihn erneut ein Türöffnen. Ein weiterer Erzieher mit blonden kurzen Haaren und einem langen Bart trat ins Büro und schaute Sascha mit einem grinsenden Gesicht an:

„Oh je, schon wieder ein Tiech!“

Dies war die erste Situation, in der Sascha wirklich von ganzem Herzen lachte! Doch wurde er schnell wieder ernst, war es doch für ihn eine sehr angespannte Lage, in der er sich befand, schließlich waren seine Gedanken in Berlin und bei seinen Freunden.

Nach einer Weile fragte Sascha:

„Wann sind wir eigentlich fertig mit dem Gerede? Im Endeffekt bleibt ja doch nur eine Möglichkeit für mich offen!“

„Und die wäre?“,

fragte Thomas.

„Na, ich muss hier bleiben!“

Sascha lächelte gequält, sank tief in die Lehne seines Sessels und blickte in die Runde! Irmgard nickte leicht und sagte dann:

„Da wirst du recht haben, aber es wird dir hier gefallen. Glaube mir!“ 

Nach einer Weile beschlossen sie, ihrem Neuankömmling das Haus zu zeigen. Vom Büro aus gingen sie über den Flur, der mit altem, gelbem Linoleum ausgelegt war, zur Treppe und hinauf in den zweiten Stock. Dort angekommen stellten sie ihm zwei weitere Jungen vor: Mannie und Anton. Der eine war sehr hager, der andere etwas untersetzter. Sascha betrachtete sie einen kurzen Moment, dann fielen ihm Dick und Doof ein, und er musste grinsen. Seinen Gedanken behielt er aber lieber für sich, schließlich kannte er sie ja noch nicht, und mit solchen Sprüchen hätte er sich gleich alles versauen können. Das wusste er wohl. Das Zimmer, welches ihm nun zugeteilt wurde, war sehr klein, und das Bett stand genau unter einer Dachschräge. Gleich links neben der Tür standen ein kleiner Schreibtisch, an dem gerade eine Person Platz nehmen konnte und ein kleiner Holzstuhl. Es gab keine Vorhänge am Fenster, und auf dem Fußboden lag ein alter, dreckiger Teppich. Nun kamen Sascha doch die Tränen, aber er versuchte, sie mit aller Kraft zurück zu halten. 

„Es ist zwar sehr klein, das Zimmer, aber bis du ein anderes hast, musst du mit diesem zurecht kommen.“

Sascha wandte sich langsam dem Mann mit dem Vollbart zu und stammelte nur ein leises:

„Ja, Sir!“

 „Jetzt zeige ich dir noch die anderen Jugendlichen, damit ihr euch erst einmal beschnuppern könnt!“

Sascha wurde ganz flau im Magen, ging aber ohne weitere Ausflüchte mit. Sie gingen bis in den Keller zu einer Tür, die so zerstochen war, dass man glauben mochte, Thomas öffnete einen Schweizer Käse.

„Also, Jungen, das ist Sascha aus Berlin!“,

präsentierte er den Jungen den Neuankömmling. Fünf waren es, die auf einer alten, zerfetzten, langgezogenen Couch saßen. Sie spielten ein Atari-Videospiel namens Phoenix, und die zwei Ältesten rauchten, was das Zeug hielt. In der Mitte des Raumes hing ein Sandsack, auf den Sascha zuging und mit einer festen Geraden drauf schlug:

„Hey, super! Da fühle ich mich ja gleich viel wohler!“

Doch niemand nahm davon Notiz. Man konnte kaum atmen in diesem Raum, da die Luft geschwängert war mit Dunstschwaden von Zigarettenqualm, obwohl nun keiner mehr eine Zigarette in der Hand hatte. Als Sascha später in seinem Zimmer saß, um zu überlegen, was er nun als Erstes anfangen sollte, klopfte es an der Tür. Es war etwas völlig Neues für ihn, da in Berlin jeder einfach in sein Zimmer gekommen war, ohne anzuklopfen. Er sagte:

„Herein!“, und die Tür öffnete sich langsam, bis Sascha einen muskulösen, schwarzhaarigen Jungen hereinkommen sah.

„Tach, ick bin Milan!“

Sein berliner Dialekt war nicht zu überhören:

„Ick bin och aus Berlin! Bin aber schon seit dem ick zwölf bin hier. Jetzt bin ick sechzehn!“

Sascha bekam große Augen, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass es jemand hier so lange aushielte.

„Wie lange muss man hier bleiben, bis man ausziehen darf?“,

fragte Sascha Milan, der sich schon auf das Bett gesetzt hatte. 

„Frühestens bis siebzehneinhalb, und mit achtzehn wirste praktisch rausjeworfen!“

Er erzählte Sascha sein halbes Leben, was diesen aber nicht im Geringsten interessierte. Er hatte im Augenblick genug mit sich selbst zu kämpfen. Er hatte das Gefühl, nicht wirklich anwesend zu sein. Eher wie in einer fremden Welt, die wie ein - so wie er hoffte - kurzer, aber heftiger Alptraum war. Milan bemerkte nicht einmal, dass sich Sascha zweimal heimlich die Tränen aus dem Gesicht wischte. Nach einigen Minuten trat ein zweiter Junge in Saschas Zimmer. Er hielt es aber nicht für richtig, anzuklopfen, sondern blökte gleich in den Raum:

„Also du bist der Neue? Also hast du ja Unterstützung erhalten aus deinem scheiß Berlin!“

Dann verschwand er wieder mit einem lauten Türknallen. Sascha fragte Milan, was das für ein Vogel gewesen sei, aber Milan winkte nur ab:

„Da musste nur weghör`n!“

Plötzlich kam der Jugendliche wieder in das Zimmer und brüllte herum:

„Wenn du mich noch einmal anredest, dann mache ich dich alle. Ich stech‘ dich ab, klar, du Depp?“

Er hielt ein Messer in der Hand und streckte es Sascha entgegen.

Sascha sprangen die Gedanken nur so durch den Kopf. Erst dachte er, er wäre im Knast. Dann dachte er wieder an Berlin, wo seine Freunde bestimmt den ganzen Tag im Schwimmbad saßen, um sich zu amüsieren. Auch wenn der Badebetrieb im November natürlich nicht statt fand, hatten sie doch einen so guten Ruf als Clique, dass der Besitzer des Freibades Berlin – Wedding sie dort trotzdem tolerierte. Sie waren keine schlimmen Jungen, die nachts alte Frauen um die Ecke brachten oder jugendliche Randalierer, die nur zusammen waren, um mutwillig fremdes Eigentum zu zerstören.

Sascha schaute erst den Jungen und dann Milan an.

"Tu es doch!",

konterte er zurück, hob sein T-Shirt hoch und streckte ihm seinen Solarplexus entgegen. Der Jugendliche sah ihn geschockt an, ging dann aus dem Zimmer und ließ sich nicht mehr blicken. Milan lachte.

„Du jefällst ma wa! Wat menste, wie wir bede Berliner hier uffräumen werden, wa?“,

sagte er und ging ebenfalls.

Bei Saschas erstem Abendessen passierte nicht viel. Er wurde noch einmal allen vorgestellt, obwohl ihn mittlerweile dank Milans losem Mundwerk nach der Sache mit dem Jugendlichen mit dem Messer schon alle kannten.

Trotzdem stellten sich nun auch die anderen Jungen vor. Zuerst der Älteste, es war der, den Sascha vor dem Spiegel gesehen hatte, als er das Haus zum ersten Mal betreten hatte. Olaf hieß er. Er war sehr wortgewandt, hielt es aber für angebracht, sich kurz zu halten. Sascha merkte, dass er diese Prozedur nicht mehr ab konnte. Dann kam der Junge, der ihn hatte abstechen wollen, an die Reihe.

„Mich kennt der schon!“

 „Aber ich kenne deinen Namen noch nicht!“

„Paul",

kotzte er ihm entgegen und wandte sich von Sascha ab.

„Na, den habe ich schon sehr auf dem kieker!",

erwiderte Sascha, um keine Schwäche zu zeigen.

Roland, der Erzieher mit den blonden Haaren und dem Bart, der die Leitungsrolle spielte, da er der diensthabende Pädagoge zu diesem Zeitpunkt war, konnte nicht glauben, dass man sich schon am ersten Tag so in die Wolle kriegen konnte.

Mannie, den Dünnen und Anton, den Dicken, kannte Sascha auch schon. Mannie nannte sich aber Martl, und Sascha fand sofort Gefallen an ihm. Er war ruhig, sauber und intelligent. Vor allem aber gefiel es ihm, dass er sehr witzig war.

Der Vorletzte war Hermann. Er quälte seinen Namen heraus, so dass Sascha dreimal nachfragen musste, damit er ihn verstehen konnte. Vielleicht machte Sascha dies auch ein bisschen mit Absicht, um der Situation emotional entfliehen zu können. Den anderen gefiel das sehr, sie lachten sich schlapp. Nur Hermann blieb still und konnte darin keinen Spaß sehen.

Der Letzte war Karsten. Er fiel Sascha sofort auf, da er einen sehr gepflegten, teuren und eingebildeten Eindruck bei ihm hinterließ.

Milan, den sie auch Sharky nannten, war nicht im Haus, denn er hatte eine Verabredung mit einem Freund. Es war den Jugendlichen gestattet, das Abendessen ausfallen zu lassen, wenn sie es mit den Erziehern vorher abgesprochen hatten.

Da Sascha am ersten Tag keinen Dienst machen musste, verzog er sich nach dem Essen sofort wieder in sein Zimmer. Er hatte starkes Heimweh, und in dieser ersten Nacht blieben auch ein paar Tränen nicht aus.

Er war sehr sensibel. Jedoch war er auch ein kleiner Kämpfer, der genau wusste, dass er immer wieder aufrecht aus schwierigen Situationen herauskam. In dieser Nacht beschloss er, sich auf jeden Fall bei seinem Freund Günther in Berlin zu melden, um den Kontakt aufrecht zu erhalten.

2. Kapitel

Die Nacht war sehr lang. Sascha hatte nicht sehr gut geschlafen, da er sich fehl am Platz fühlte. Er hatte immer wieder das Licht angemacht und oft auf seine silberne, billige Fünf-DM-Wegwerf- Uhr geschaut. Seine Gedanken gingen ständig nach Berlin. Was er da wohl jetzt gerade getan hätte? Aber er sah sich immer am Bahnhof Zoo, wo er nach Drogen gefragt hatte, mit seinen Freunden, inmitten von Prostitution, mit geklautem Geld von seiner Mutter oder aus Kassendiebstählen. Sascha hatte so seiner Einsamkeit, dem Mangel an Liebe und familiärer Wärme entfliehen wollen.

So gegen neun Uhr war Sascha schließlich wach und zog sich sehr schnell an. Seine Nervosität konnte man regelrecht im ganzen Zimmer spüren, ja, fast riechen. Es war sehr ruhig im Haus. Es schien, als sei niemand da. Als Sascha Schritte hörte und es an seiner Tür klopfte, sprang er angezogen wie er war, mit einem Satz zurück in sein Bett und zog die Decke bis hoch zum Hals.

„Ja!“

Die Tür öffnete sich, und Roland stand vor der Türschwelle.

„Na, hast du gut geschlafen?“,

fragte er.

„Es ging so“,

erwiderte Sascha und sah Roland fragend an.

„Komm `runter in die Küche. Da steht noch das Frühstück, bevor wir es wegräumen. Oder willst du kein Frühstück?“,

fragte Roland und drehte sich weg, um zur Treppe zu gehen.

Sascha riss seine Augen auf und rief laut und mit knurrenden Magen:

„Doch, doch!“

Er sprang mit einem Satz aus den Federn und stand schon in der Tür. Roland drehte seinen Kopf zurück und blickte Sascha mit einem Grinsen an. Dann standen sie eine Sekunde lang da und sahen sich nur an. Es war eine von diesen Sekunden, bei denen man glaubt, sie enden nie und lassen eine bestimmte Antwort offen.

Dann lachten sie beide ganz laut und liefen zusammen die Treppe hinunter. Sascha hatte Bauchkribbeln. Schließlich war es das erste Mal, dass er dort frühstücken ging. Er wusste nicht, was ihn erwarten würde. In der Tür zur Küche hielt er kurz an und blickte hinein, sah aber niemanden. Kaum saß er am Tisch, griff er auch schon als aller erstes zur Thermokanne.

„Kaffee!“,

schoss es aus ihm heraus und das mit einem Ausdruck, als sei es etwas, das er noch nie getrunken hatte und als sei das N.I.S.T. das Schlaraffenland, in dem alles frei zugänglich war und die Hühner gebraten vom Himmel fielen.

In der Zwischenzeit war Roland in die Küche gekommen und hatte sich mit an den Tisch gesetzt. Da Roland erst einmal nichts sagte, war Sascha verunsichert, fühlte sich beobachtet und hatte das Gefühl, als sitze er in einem Zoo.

Das Schlimmste war, dass er dies von seiner Mutter kannte. Bei ihr war er sich nie sicher gewesen, welche Laune sie gerade gehabt hatte. Manchmal hatte sie Sascha aus heiterem Himmel mit dem Handrücken auf den Mund geschlagen und erst danach gesagt, warum sie es getan hatte. Zumeist waren ihre Gründe die Dümmsten gewesen, die sich Sascha hatte vorstellen können, zum Beispiel, weil er das leere Klopapier nicht gewechselt hatte oder weil er seinen Kaffee verschüttet hatte. Immer wieder hatte es eine Schelle gegeben, ganz gleich, ob seine Mutter ihm gegenüber oder direkt neben ihm gesessen hatte. Die Hauptsache war für seine Mutter gewesen, so glaubte Sascha, dass es ihm wehtat.

Roland saß ihm genau gegenüber, und obwohl Sascha das überhaupt nicht mochte, ließ er es sich nicht anmerken.

„Na, hast du dich schon etwas eingelebt?“,

fragte Roland schließlich.

Sascha war gerade im Begriff, in sein gemachtes Brot zu beißen. Er legte es hin und reagierte sehr ungehalten:

„Meinst du etwa, ich kann dir nach zwei Tagen schon sagen, ob ich mich hier eingelebt habe?“

Er stand mit einem Ruck auf und rannte aus der Küche hinunter in den Hobbyraum. Dieser war zum Glück offen, so dass Sascha all seine angestaute Wut am Sandsack auslassen konnte.

Erst als er sich einigermaßen beruhigt hatte und vor lauter Erschöpfung keinen Schlag mehr ansetzen konnte, setzte er sich auf  die Couch und starrte gegen die Wand. Es liefen auch ein paar Tränen. Er versuchte, sich wieder einmal zusammen zu reißen, da er das Gefühl hatte, dass jeden Moment ein Erzieher hereinkommen konnte.

Schließlich schaltete er den alten Schwarz-Weiß-Fernseher und die Atari-Spielkonsole an. Das Spiel, welches eingesteckt war, war jedoch nicht das Phönix-Spiel, dass er am ersten Tag gesehen hatte,  sondern ein anderes, welches er aus dem Gerät zog und in die Ecke feuerte. Im Phoenix war er zwar noch nicht sehr gut, aber es half ihm dabei, sich abzulenken und auf etwas anderes zu konzentrieren. Seine Gedanken und Gefühle konnten sich auf die neue Situation einfach noch nicht einstellen, obwohl er sich wirklich bemühte.

Warum er auf diese Weise reagierte, wusste er aber genau. Er wollte nichts weiter, als dieser Situation entfliehen. Sascha wollte in dem Moment keine Fragen beantworten müssen und auch nicht seine Gefühle analysieren lassen.

„Mein Gott! Ist das hier langweilig!“,

war in dieser Zeit eine häufige Reaktion von ihm, da er oft an Berlin und an seine dort geglaubte Freiheit dachte. Dabei wusste er im Grunde selbst, dass das, was er in Berlin gehabt hatte, auch nicht das Wahre gewesen war. Vor allem wusste er, dass ihm seine Drogengeschichte, die er mittlerweile aber schon selbst als Vergangenheit ansah, nichts für ihn persönlich oder für seine Zukunft gebracht hatte. Er war sehr froh über diese Erkenntnis, und auch darüber, dass nur Herr Beier vom Jugendamt und Irmgard, die Psychologin des Hauses, darüber Bescheid wussten.

Da Sascha die meiste Zeit seiner Kindheit mit seinem Bruder auf der Straße verbracht hatte, war es nur eine Frage der Zeit gewesen, dass er mit härteren Drogen in Kontakt gekommen war. Als er acht Jahre alt geworden war, hatte er seine erste Zigarette auf einem Fußballplatz geraucht. Mit zehn Jahren war der erste Joint dazu gekommen und an seinem dreizehnten Geburtstag hatte er das erste Mal Koks geschnupft und die erste Nadel mit H. gespritzt. Wirkliche Freundschaft hatte es dort nicht gegeben, doch das hatte er damals dort noch nicht gewusst. Denn alles war für ihn besser gewesen, als zu Hause eingesperrt zu sein oder Prügel zu kassieren.

Nur Günther, den Sascha mit zwölf Jahren in der Hauptschule kennengelernt hatte, war der erste wirkliche Freund gewesen, der nicht nur versucht hatte, Sascha von der Straße fernzuhalten, sondern es auch teilweise geschafft hatte. Dies war vielleicht auch einer der Hauptgründe, warum Sascha weinte, wenn er an Günther und Berlin dachte.

Sehr viel Konzentration für das Spiel konnte Sascha nicht aufbringen. Er schaltete es ab, und verließ den Hobbyraum, jedoch nicht, ohne noch einmal gegen den Sandsack zu schlagen.

Die Zeit war sehr schnell vergangen, und als am Nachmittag die anderen nach und nach von der Schule oder Arbeit nach Hause kamen, hatte sich Sascha vorsorglich in sein Zimmer verzogen, sicher auch aus Scheu, aber vor allem auch wegen des gewissen Nicht-Reden-Wollens.

Als jedoch Sharky in sein Zimmer trat, war es mit der Ruhe vorbei. Zumindest war Sascha zufrieden, dass es kein anderer war. Sharkys Grinsen war unübertroffen. Er ließ ein paar Kraftsprüche ab, die Sascha dazu veranlassten, seine Augen zur Decke zu verdrehen, ihm aber auch klar machten, dass Sharky nur ein großer Maulheld war, auch wenn er aufgrund seiner Statur auch etwas draufhaben musste. Aber Sascha hatte auf der Straße gelernt, dass nicht nur Muskeln wichtig waren zum Überleben. Er hörte Sharky aufmerksam zu, und als dieser fertig war und tief durchatmete, fragte er ablenkend:

„Was gibt es eigentlich zum Essen?“

„Was es zum Essen gibt?“

„Ja“,

wiederholte Sascha.

Sharky verzog das Gesicht, drehte seinen Kopf zur Seite und stammelte in seinen sehr kurzen, fast nicht zu sehenden Bart:

„Jetzt sitzt er den janzen Tach hier rum, muss nich inne Schule und fracht mich, der vor zwanzich Minuten jekommen is, wat et zu fressen jibt?“

Es klang sehr zornig, so, wie er es sagte, aber er hatte trotzdem ein kleines Lächeln auf den Lippen.

Dann schauten sich beide an und lachten sich gegenseitig höllisch an. Sharky nickte Sascha mit dem Kopf zu als Zeichen, mit ihm nach unten in die Küche zu gehen. Als sie in der Küche eintrudelten, war der Tisch schon gedeckt, und in der Mitte stand ein riesengroßer Topf und daneben zwei Schüsseln mit Salat.

Sharkys erster Griff ging allerdings nicht an den Topf, um nachzuschauen was darin war, nein, er ging an den Kühlschrank, um ihn aufzumachen und ihn im gleichen Moment mit dem Fuß und einem lauten:

„Würgs!“

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