Ein kleiner Ausschnitt aus meinem Buch "Dallingerstraße"
Der Weg des Wolfes

1. Kapitel

… Da stand er nun in seiner ersten eigenen Wohnung. Sascha blickte sich um und hatte Herzklopfen, dieses Klopfen, wenn es schwierig wurde und er Angst hatte. Hinzu kam, dass er aufgrund der aktuellsten Erlebnisse auch noch mächtig aufgeregt war. Der Umzug aus seinem Jugendheim, in dem er die letzten drei Jahre verbracht hatte, ging schnell vonstatten, aber er selbst erlebte alles wie in Trance.

Die Einzimmerwohnung hatte einen Flur, der mit fünf normal großen Schritten durchlaufen war und endete in einer kleinen Nische, in der ein schwarzes Regal stand, welches durch einen roten Vorhang verdeckt wurde. Diese Nische, die Sascha sehr funktional fand und auch weiter so nutzen wollte, war mit allem gefüllt, was er nicht verwendete, aber auch nicht wegwerfen wollte. Einerseits, weil er noch nicht wusste wohin damit, andererseits weil er es nicht wegwerfen wollte, wie zum Beispiel seinen Boxsack, den man ihm zum Abschied aus dem Jugendheim geschenkt hatte. Gleich neben der Wohnungstür rechts war das Bad. Dieses war eingerichtet mit einer Badewanne, einer Toilette und einem Waschbecken. Über dem Waschbecken hing ein weißer Allibert-Schrank, der drei Spiegeltüren zum Öffnen hatte. Richtig weiß war er nicht mehr, denn an den Seiten war er schon etwas vergilbt. Dieser Spiegelschrank war schon in der Wohnung, als er einzog. Die nächste Tür im Flur rechts war die Küche. Eine Küche, die schlauchähnlich und mit einem Esstisch und zwei Stühlen am Ende ausgestattet war. Den Ausblick aus dem Fenster am Ende der Küche empfand Sascha nicht als schön. Es war diese Art von Ausblick, den Sascha aus seiner Kindheit kannte. Geboren in Berlin-Neukölln und aufgewachsen in einer Wohnung im Hinterhaus, war auch in seiner Kindheit der Blick auf Hauswände, teils ohne Fenster, genauso wie auch hier in der neuen Wohnung, normal gewesen. Das Sonnenlicht war spärlich und so wusste Sascha, dass es im Herbst und im Winter in der Küche nicht sehr hell werden würde. Wenn er die Küche betrat, war die rechte Wand leer und auf der linken Seite war eine günstige, in Weiß gehaltene Einbauküche angebracht, nichts Besonderes, nur das Günstigste vom Günstigsten. Die Türen knallten laut und der Herd war so alt, dass selbst die einst weißen Knöpfe des Herdes auch schon vergilbt waren. Doch gab die Küche Sascha genug Möglichkeiten, alles gut zu verstauen.

Beim letzten Besuch in Berlin, als Sascha bei seiner Mutter gewesen war, hatte er ein paar Teller und auch anderes Geschirr mitnehmen können, vor allem aber drei Eierbecher, über die er sich sehr gefreut hatte, denn er aß für sein Leben gern gekochte Eier. Immer wenn er im Jugendheim ein oder zwei Eier essen konnte, dann tat er dies mit Genuss und Hingabe.

Eine Kaffeemaschine fehlte ihm auch nicht, denn auch diese war vom Vormieter, der ebenfalls aus dem Jugendheim kam in dem Sascha gewesen war, zurückgelassen worden. Sie war zwar auch schon etwas älter, und Sascha wollte sich irgendwann eine neue besorgen, aber fürs Erste war Sascha zufrieden mit ihr. Er wartete darauf, von Martina, seiner Nachbetreuerin, zu erfahren, wie viel Geld er zur Verfügung hatte, um sich einige Wünsche erfüllen zu können. Viele Wünsche hatte er nicht, aber etwas wohnlicher wollte er seine Wohnung schon gestalten.

Das Herzstück der Wohnung war das Wohnzimmer. Ein einfacher quadratischer Raum. Das rote Sofa, das er von Werner, einem Pädagogen aus dem Heim, bekommen hatte, stand gleich, wenn man den Raum betrat, an der Wand links. Vor dem Sofa stand sein runder Glastisch, der aus drei halbrunden, aus Aluminium gefertigten Beinen bestand. Ein Geschenk von Marco Kluse, der sehr spendabel war, wenn man ihm gut zuredete und dabei wusste, welche Hebel man ziehen musste. Da Marco Kluse sein bester Freund im jugendheim gewesen war, wusste Sascha sehr gut, wie man mit ihm reden musste, um etwas zu bekommen. Marco hatte ein zu großes Herz, um nein zu sagen. Der Umstand, dass Marco vor seinem Auszug aus dem Heim selbst nicht alles mitnehmen wollte, kam dann noch für Sascha begünstigend hinzu.

Auf der rechten Seite, zum Fenster hin, stand ein zweimal zwei Meter großes Bett. Das Bett hatte Manfred gespendet, der Ebenfalls ein Pädagoge aus seinem alten Heim war, und es war noch recht neu. Warum er es hergab, war Sascha nicht bewusst gewesen, aber es füllte den größten Teil der Zimmerecke aus. Am Fenster hingen dunkelgelbe Vorhänge, mit einem Prägemuster, das aussah wie das Pik bei Spielkarten. Die weißen Gardinen waren lang genug und lagen leicht auf dem Boden auf. Beides hatte er auch von seiner Mutter aus Berlin mitgebracht gehabt. Als allererstes hatte er sich ein paar Poster aus seinem Stammgeschäft für Heavy Metal-Utensilien gekauft. Ein großes Poster vom Bassisten der Musikgruppe Kiss, Gene Simmons in Maske. So wie Kiss am Anfang der siebziger Jahre aufgetreten war, sowie ein weiteres Poster von Peter Criss, dem Schlagzeuger der Selben Band. Dieser war für Sascha das Lieblingsmitglied von Kiss gewesen. Seine Balladen fand Sascha wunderschön und sie gingen ihm ans Herz. Die anderen Wände neben und hinter seinem Sofa blieben leer. Da diese Wände weiß gestrichen waren, wirkte das Wohnzimmer schön hell und groß.

Sascha setzte sich auf sein Bett, wurde ganz ruhig und dachte nach. Er überlegte, was er als nächstes machen sollte. Dann holte er einen Quellekatalog aus einem der Kartons, die er noch nicht komplett ausgepackt hatte, da er für dessen Inhalt noch keinen Schrank besaß. Er wusste auch noch nicht, wie viel Geld er ausgeben durfte, um sich das erste Mal einzurichten. Er schlug den Katalog, den ihm Martina gegeben hatte, auf und schaute in der Rubrik Wohnzimmer nach einer günstigen, aber guten Schrankwand. Er überlegte lange und schaute sich jede Schrankwand genau an. Am Ende wurde es eine Schrankwand aus hellem Holz, furniert, mit einer nach oben hin eckig verlaufenden Glasvitrine, die mittig positioniert war. Am Ende des Kataloges gab es Bestellcoupons, die man ausfüllen musste, um sie dann mit den jeweiligen versehenen Kreuzen und seiner Unterschrift an das Versandhaus zu schicken. Da Sascha noch genug Briefumschläge hatte, erledigte er dies sofort und legte sich den Briefumschlag im Flur auf die kleine, viereckige, weiße Kommode, die der Vormieter zurückgelassen hatte. Abschicken wollte er die Bestellung erst, sobald er wusste, wie viel Geld er zur Verfügung hatte, und wenn Martina ihm das Okay gab.


2. Kapitel

Alles in allem war Sascha ganz zufrieden mit seiner Wohnung. Auch mit der Stille konnte er gut umgehen. Einsamkeit kannte er, und sie war für ihn nicht so schlimm. Schließlich hatte er ja auch noch seine Freunde im Jugendheim, dem Heim, aus dem er gerade ausgezogen war. Nun setzte sich Sascha auf sein rotes Sofa, in das er sehr tief einsackte, um sich eine Zigarette zu drehen. Dazu nahm er den Tabak der Marke Bison. Er drehte sich Zigaretten, da es für ihn günstiger war. Anfangs versuchte er Filter in die Zigaretten zu drehen, sah aber aus Kostengründen davon ab und machte sich keine Gedanken darum, ob das Rauchen ungesund wäre oder nicht. Dass sein Vater Kettenraucher war und es am Tag auf vier Schachteln Zigaretten brachte, hatte er völlig verdrängt. Genauso verhielt es sich mit dem Essen. Gesunde Ernährung war nicht relevant. Sein erstes Essen in der Wohnung hatte nur aus Milch, Brot und ein wenig Wurstaufschnitt und Käse und ein paar anderen Dingen bestanden, die er aus dem Heim noch mitgenommen hatte. Der Käse war allerdings immer noch genauso in der Folie eingewickelt geblieben. Hartkäse war nicht sein Fall, doch als er im Heim vor dem Kühlschrank gestanden hatte, hatte er einfach mitnehmen wollen, was ging. Zuhause in seiner Kindheit hatte auch niemand darauf geschaut, ob die Lebensmittel nahrhaft waren oder nicht. Da Sascha aus einer armen Familie stammte, waren auch Dosenessen keine Seltenheit gewesen. Allerdings gab es auch gute Zeiten, in denen es an den Wochenenden einen Schweinebraten mit Kartoffeln oder Knödeln und Rotkohl gegeben hatte. Ravioli aus der Dose waren sein „Hass“-Essen. Allein die Konsistenz, wenn sie in seinem Mund auseinanderbrachen und sich anschließend der Geschmack von dem Metall der Dose in einem Gemisch mit der sehr sämigen Tomatensoße ausbreiteten, war für ihn kaum zu ertragen gewesen. Seit seiner Kindheit hatte er so etwas nicht mehr gegessen. Linseneintopf oder Nudeln in Tomatensauce mochte er hingegen schon. Diese schnellen Essen hatte er auch im Schrank. Dazu kaufte Sascha sich Brot in Scheiben, das auch sehr günstig war. Ob das Brot ein gesundes Brot war, spielte für ihn keine Rolle. Es reichte ihm eines für neunundneunzig Pfennig und es wurde mit Butter und Mortadella schön dick zugekleistert.

Es war Wochenende in seiner ersten eigenen Wohnung und einen großen Plan, was er so machen könnte, hatte er noch nicht. Von einem Schrankaufbau war noch nicht die Rede, denn es fehlte noch der Schrank. Und Sascha war nicht der Mensch, der immer einen Plan hatte. So stand er auf und ging erst einmal auf die Toilette, so wie jeden Morgen, wenn er aufwachte. Anschließend putzte er, zwar etwas oberflächlich aber mit viel Zahnpasta, seine Zähne. Es war nun etwas völlig anderes für ihn, komplett alleine zu sein und seinen Tag zu verbringen. Im Heim war immer jemand anwesend gewesen oder er hatte jemanden oder zumindest Musik hören können aus den anderen Zimmern. Schließlich war jeder der Jungen musikbegeistert und hatte seine eigene, spezielle Musik. Ansonsten hatte er immer andere Stimmen vernommen oder es war ihm der eine oder andere im Haus begegnet, wenn er sein Zimmer verließ. Das hatte Sascha immer das Gefühl von Familie und Geborgenheit gegeben und das Gefühl, eben nicht einsam zu sein. Es hatte sich in seinem Herzen warm angefühlt. Eine Geborgenheit, die er nicht wirklich kannte aus seiner Kindheit. Sascha war das dritte Kind von Dreien und seine Mutter zeigte wenig Liebe und Fürsorge. Abgesehen davon war sie eine Mutter, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Familie zu ernähren, da sein permanent alkoholisierter Vater nie arbeiten gegangen war. Somit war sie für Sascha und seine Geschwister als Mutter erst Recht nicht greifbar gewesen. Ob sie ihre drei Kinder trotzdem liebte, verspürte er nicht.

Das erste Lebensjahr hatte Sascha zudem im Krankenhaus verbracht. Erst war er einen Monat zu früh auf die Welt gekommen, dann hatte er Fruchtwasser in der Lunge gehabt und auch noch in den Brutkasten gemusst. Um 1970 war es noch so gewesen, dass Mütter in so einer Situation von ihren Säuglingen fern gehalten wurden. Kurze Zeit später hatte er dann auch noch zweimal eine Lungenentzündung auf beiden Lungenflügeln durchmachen müssen.

Das war sein erstes Lebensjahr gewesen. Da seine Mutter nicht im Krankenhaus leben durfte und konnte, hatte er dieses eben alleine mit etlichen Krankenschwestern und Ärzten verbracht. Er war also auch schon früh in seinem Leben mit dem Tod konfrontiert worden. Manchmal dachte Sascha so bei sich, dass er sein ganzes Leben, bis zu jetzigen Zeitpunkt, nur überlebt hatte, weil er schon als Säugling ums Überleben hatte kämpfen müssen.

Dies erste Wochenende in seiner neuen Wohnung war für ihn nun damit gefüllt, sich innerlich auf die Arbeit am Montag vorzubereiten. Daneben tat er nichts weiter als Musik hören, essen und trinken und Fernsehen gucken.

Natürlich konnte Sascha an solch einem Sonntag dann schlecht einschlafen, denn ohne sich ordentlich zu bewegen oder sich mit Freunden zu treffen, war er viel zu wach in der Nacht. Doch irgendwann schlief er dann ein, ohne zu wissen, wann das war.

Seit Sascha mit seiner Ausbildung als Lackierer begonnen hatte, freundete er sich immer mehr mit Hubert Mayer an, einem Gesellen von fünfundvierzig Jahren, der seine Arbeit sehr gerne und gut machte. Sein Ruf eilte ihm voraus, und man sagte in der Lackiererei, dass Hubert Mayer einer der gefragtesten Lackierer Nürnbergs wäre. Jeder Betrieb würde sich um ihn reißen, so wäre es auch in diesem Betrieb gewesen. Als der Firmeninhaber erfahren hatte, dass Hubert in seiner letzten Firma gekündigt hatte, wollte er unbedingt, dass er hier in seiner Firma anfinge. Nach zwei Tagen Verhandlungen und einem sehr guten Gehaltsangebot, hatte er sich wohl dazu entschieden, in Saschas Ausbildungsstätte anzufangen. Dass er dort arbeitete, war für Sascha ein Glücksfall, denn dieser Lackierer war nicht nur ein guter Geselle, der ihm beibrachte, wie man ein Auto zum Lackieren vorbereitete, nein, Hubert war viel mehr als das. Er war ein richtig guter Mensch, der sich wirklich um Sascha bemühte. So erzählte er ihm von seinem Hobby bei den Noris Rams. Schon in den letzten Wochen, bevor Sascha aus dem Jugendheim ausgezogen war, war er mit Hubert zu einem Spiel gegangen und war sofort begeistert von der Sportart gewesen, die er schon als Zwölfjähriger kennengelernt hatte. Er wollte allerdings nicht nur Zuschauer auf einer spärlich besetzten Tribüne sein. So drängte er Hubert von Anfang an, mit bei ihm auf der Seitenlinie stehen zu dürfen. Noch lieber wäre ihm natürlich gewesen, dort als Spieler zu fungieren. Doch seine Englischkenntnisse waren nicht ausreichend genug gewesen und Sascha verstand nichts von den Regeln des Sports. Jedoch verschob sich das Zuschauen von der Tribüne schon beim zweiten Spiel auf den Seitenrand, da Hubert dem Drängen von Sascha schnell nachgab. Hubert Mayer war Equipment-Wart bei den Rams. Toll fand Sascha auch, dass die Trikots und Helme der Spieler genauso aussahen wie die der Originalmannschaft aus Los Angeles in den USA. Das gab ihm das Lebensgefühl von Klein Amerika mitten in Nürnberg, eine Welt, die nicht nur in einem Traum Bestand hatte und die er cool fand und bei der er sich freute, mitten zwischen den großen und kräftigen Spielern zu stehen. Sascha fühlte sich von Anfang an angenommen und vom Team verstanden, denn jeder war freundlich zu ihm und redete mit ihm. Er war wie ein Ersatzvater für Sascha gewesen. Hubert hatte dies nicht als Intention für sich selbst, sondern er war einfach nur ein netter, aufrichtiger Mensch. Für Sascha verhielt es sich ähnlich, nur dass er sich sehr an ihn gebunden fühlte und jemanden gefunden hatte, mit dem er Freude und Spaß teilen konnte. Vor allem aber war Hubert ein Erwachsener, der Sascha so sein ließ, wie er war und nicht versuchte, ihn zu verbiegen. Natürlich erzählte Hubert ihm, wie das Leben funktionierte und wie er sich am besten in mancher Situation verhalten sollte, aber es war nie etwas Belehrendes oder ein überzogenes Geschwafel und vollkommen ohne etwas Aggressives in seinen Aussagen und in seiner Stimmlage. Völlig anders, als es Sascha in seiner Kindheit gelernt und erfahren hatte. Damals waren ein hierarchischer Ton und Aggressivität an der Tagesordnung gewesen. Saschas Vater hatte von frühester Kindheit an einen Stempel weggehabt, da er das Ergebnis einer Affäre wiederum seines Vaters gewesen war. So war Saschas Vater als „Rabenkind“ nach Bayern gekommen und war im erzkatholischen Cham auch so behandelt worden. Dass seiner Familie dort im Bayerischen Wald vor dem Zweiten Weltkrieg das größte Sägewerk Europas gehört hatte und sie somit ein gewisses Ansehen dort genossen hatte, war für Saschas Vater nicht etwa ein angenehmer Aspekt von Reichtum gewesen, der mit Wohlstand und Liebe zu tun gehabt hatte. Nein, es war ein willkommener Anlass gewesen, ihn als billiges Arbeitstier zu nutzen und auch so zu behandeln. So waren damals Schläge und Unterdrückung keine Seltenheit gewesen, zumal sein Vater als „Rabenkind“ jegliche Rechte innerhalb der Familie verloren hatte. Natürlich hatte sein Vater nichts für seine Rolle gekonnt. Das hatte die Familie aber nicht geschert, und somit waren die Bausteine des Lebens für Saschas Vater früh gesetzt worden und sein Weg vorgezeichnet gewesen. Niemals hatte sein Vater etwas reflektiert oder gar eine Therapie gemacht. Seinen Seelen Unfrieden und all seine anderen Probleme, die das Leben mit sich brachte, ertränkte er im Alkohol.

So war Sascha auch am zweiten Spieltag im Stadion, stand aber nun am Spielfeldrand und fieberte nun dort mit der Mannschaft mit, die auf dem Feld um Punkte rang. Sie lagen zurück, und obwohl Hubert nur die Helme und Schulterpolster der Spieler reparieren sollte, gab er lauthals Kommentare zum Geschehen auf dem Platz ab. Es stand außer Frage, dass er sich darin besser auskannte als Sascha, jedoch die Art und Weise, wie er sich auf dem Platz echauffierte, war selbst für Sascha sehr peinlich anzusehen. Zwischenzeitlich hinterfragte er Huberts Verhalten und sprach ihn darauf an:

„Hubert, findest du nicht auch, dass du etwas zu heftig bist?“

Hubert, in seiner noch heftigen Wut über den Spielverlauf und in seinem Drang, wütend davon zu stapfen, schaute Sascha an und sagte mit weiterhin zorniger Stimme und aggressiver Körperhaltung:

„Na, das ist es nicht. Die sind am Bescheißen, die Schiris sind wohl total blind.“

Hubert pumpte sich noch mehr auf und stampfte anschließend mit einem Facemask in der einen und dem dazugehörenden Helm in der anderen Hand an Sascha vorbei zur Bank, unter der sein Werkzeugkoffer stand. Er war für seine fünfundvierzig Jahre sehr gut gebaut, denn einen dicken Bauch oder gar breite Hüften hatte er nicht. Er kniete sich neben die Spielerbank und kratzte irgendetwas ab, was Sascha nicht erkennen konnte. Da er es sehen wollte und vor den anderen den Eindruck vermitteln wollte, dass er mithelfen müsse, hockte er sich ganz dicht neben Hubert, schaute intensiv zu und fing seinerseits an, den Helm vom Boden aufzuheben und festzuhalten. Hubert schnaufte laut und kratzte mit seinem Griffspachtel, den er eindeutig von der Arbeit mitgebracht hatte, die alten Reste vom Tape am Gesichtsgitter ab. Anschließend erschien dort ein Loch, in das er etwas aus Plastik reindrückte und dann wieder mit Tape verschloss. Nach getaner Arbeit gab er Sascha den Helm in die Hand und wies ihn an, den Helm zurück zum Besitzer zu bringen, damit dieser schnellstmöglich wieder am Spiel teilnehmen konnte. Sascha drehte sich sofort weg von Hubert und lief Richtung Spielfeldrand. Natürlich blieb er etwas abseits, um nicht von den Spielern umringt zu werden oder zu stören. Das tat er nicht, weil ihm Hubert das verboten hatte, sondern weil er großen Respekt hatte vor den Trainern und den Spielern, die groß und breitschultrig angespannt dastanden und es seiner Meinung nach nicht befürworten würden, wenn er mittendrin stehen würde. Zu Saschas Glück erkannte der Spieler, der den Helm brauchte, seinen Helm und nahm ihn Sascha aus der Hand. Er setzte ihn auf und kurz danach lief er auch schon beim nächsten Spielzug aufs Feld.

Sascha beobachtete das Spiel an der Seitenlinie genau. Auch auf dem Platz wurde alles von ihm notiert, denn es interessierte ihn sehr, was dort geschah. Er selbst war zwar Fußballer gewesen und hatte diesen Sport seit frühester Kindheit gespielt, aber Football war aufregend.

Sascha erinnerte sich noch gut daran, als er sieben Jahre alt gewesen war. Er hatte mit seinem vier Jahre älteren Bruder auf einem Bolzplatz inmitten Neuköllns gestanden. Damals waren auf diesem kleinen Bolzplatz die Tore mit weißer Farbe auf aufrecht gestellten Holzschwellern gemalt gewesen. Es hatte dort noch keine Tore mit Metallnetz oder ähnlichem gegeben. Die Lauffläche war aus purem Beton gewesen, auf dem ebenso die Linien für ein Fußballfeld aufgemalt gewesen waren.

Sascha hatte wie so oft im Tor gestanden, da sein großer Bruder alles bestimmt hatte und lieber auf das Tor hatte schießen wollen, anstatt selbst darin zu stehen. Doch eines Tages war etwas geschehen, das im Grunde nicht so außergewöhnlich war, wenn man auf einem Bolzplatz Fußball spielte. Saschas Bruder hatte den geklauten Tango-Fußball so fest geschossen, dass Sascha nicht schnell genug mit den Händen nach oben gekommen war, um sein Gesicht zu schützen. In seinem Kopf machte es nur „Bum“, und das war alles, was Sascha noch gewusst hatte. Als er wieder aufgewacht war, hatte er für einen Moment nicht erkannt, wo er war. Sein Gesicht hatte geglüht und vor Schmerzen gezogen. Das Erste, was er vor seinen Augen gehabt hatte, war nicht sein besorgter Bruder gewesen, sondern ein älter Mann mit einem beigen Hut auf dem Kopf. In seiner Hand hatte er einen kleinen Block und einen Stift gehalten. Der Mann hatte sich nicht vorgestellt, aber sofort etwas laut und hektisch geredet:

„Na, den hast du nicht gut gehalten. Morgen sehe ich dich aber ausgeruht am Posthof zum Training, um 16:00 Uhr.“

Sascha hatte in diesem Moment nur Bahnhof verstanden. Abgesehen davon hatte sein Gesicht immer noch geschmerzt. Sein Bruder, der etwas abseits gestanden hatte, bis der Mann weggegangen war, war nun zu ihm geeilt und hatte Sascha an dessen Händen ziehend wieder auf die Beine geholfen.

„Posthof? Weißt du, was das bedeutet?“,

hatte Sascha mit hochgezogenen Schultern seinen Bruder gefragt. Daniel hatte die Stirn gerunzelt, sich am Kinn gerieben und dann geantwortet:

„Soweit ich weiß, ist das der Trainingsplatz von Hertha. Kann mir aber nicht vorstellen, dass du wirklich dort trainieren sollst.“

Sascha war auf diese Antwort nicht weiter eingegangen. Als er allerdings am nächsten Tag dorthin gefahren war, war es tatsächlich der Trainingsplatz der Jugend von Hertha BSC gewesen.

Damit endete auch schon sein Gedanke, denn Hubert klopfte ihm auf die linke Schulter und stellte sich neben ihn:

„Du kannst schon näher an die Spieler heran, sonst bemerkst du ja nicht, wenn du gebraucht wirst.“

Er grinste und fing gleich an zu applaudieren, da die Rams einen guten Spielzug hingelegt hatten und dadurch die Chance bekamen, noch einmal auszugleichen.

„Deshalb finde ich diesen Sport so genial. Ob man gewinnt oder verliert weiß man fast immer erst, wenn das Spiel vorbei ist“,

sprudelte Hubert mit lauter Fröhlichkeit in seiner Stimme heraus und lief einfach davon. Aus der Erinnerung wusste Sascha, dass die Amerikaner diesen Sport liebten und der Besuch eines solchen Spiels in den USA wie ein Ausflug zum Picknick zelebriert wurde. So ein Spiel konnte gut und gerne vier Stunden dauern. Deshalb gingen die amerikanischen Familien mit eigens gepackten Picknickkörben in die Stadien und machten es sich bequem mit Essen und Trinken.

 

 

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